Ich bin so wütend, hab eine riesengroße Wut im Bauch. Und ich bin so enttäuscht. Am liebsten würde ich weinen, aber es kommen keine Tränen. Die Wut überlagert alle anderen Gefühle. Wir haben Hochzeitstag und ich hatte mich eben auf einen Spaziergang mit meinem Mann und Baby gefreut. Wir wollten unseren Sohn im Park abholen. Das Baby würde gleich einschlafen, es ist nämlich hundemüde. Und ich hätte etwas Zeit mit meinem Mann gehabt. Ich hatte extra noch schnell Kaffee und Kuchen eingepackt. Mein Mann sollte nur noch unseren Nachbarn Bescheid sagen, dass wir kurz unterwegs sind. Dort spielte nämlich unsere Tochter. Und was passiert? Er kommt mit unserer Tochter zusammen wieder zurück. Und ich krieg eine riesige Wut! Ich wollte doch „allein“ mit ihm spazieren gehen. Wir gehen also zu viert los. Unsere Tochter hat Steinchen im Schuh, voller Wut über die Verzögerung ratsche ich mir die Hände auf, als ich ihr die Schuhe ausziehe. Innerlich koche ich. Meine Wut richtet sich gegen meine Tochter. Ich bin kurz vor dem Platzen und beschließe umzukehren und mich allein auszuwüten. Wie konnte es nur soweit kommen? Normalerweise bin ich doch ein ausgeglichener Mensch.
Vielleicht kennst auch du solche Situationen. Du bist so wahnsinnig wütend auf dein Kind, wirst ungerecht ihm gegenüber. Du bemerkst das und trotzdem kannst du in dem Moment nicht anders agieren. Hilflosigkeit macht sich in dir breit.
Erste-Hilfe bei großer Wut – Was hilft sofort?
1. Bring dein Kind aus der Gefahrenzone!
Wenn du eine große Wut spürst, suche Abstand zu deinem Kind, um es nicht durch dich in Gefahr zu bringen. Sorge dafür, dass du dein Kind nicht körperlich oder psychisch verletzt. Ein Baby kann kurz ins Bettchen (auch, wenn es weint), ein Kleinkind kann ins Kinderzimmer, bei älteren Kindern kannst du dich ins Bad oder Schlafzimmer zurückziehen.
2. Fühle deine Wut!
Wenn du dann allein bist, agiere deine Wut körperlich aus. Deine Gefühle wollen gefühlt werden. Lass sie da sein. Drück sie nicht weg, sondern nimm sie wahr. Mach dir Luft! Tue das, was dir in dem Moment guttut. Box in dein Kissen, springe, schreie, schüttel dich, atme prustend aus. Bahar Yilmaz, die Autorin des Spiegelbestsellers „Du wurdest in den Sternen geschrieben.“, empfiehlt sogar, dass wir unsere Wut in solchen Momenten noch verstärken sollen. Fache dein Wutfeuer zusätzlich an. Du lässt dich dadurch voll und ganz auf deine Wut ein und verdrängst sie nicht. Wenn dann dein Wutfeuer herunter gebrannt ist, kannst du dir anschauen, was deine Wut dir sagen will.
3. Sprich mit deinem Kind!
Wenn die Wutenergie raus ist, wenn du deine innere Mitte wieder gefunden hast, gehe bitte zu deinem Kind. Tröste es gegebenenfalls. Sag deinem Kind, dass deine Wut nichts mit ihm zu tun hat, dass es daran keine Schuld hat. Du bist die Erwachsene/ der Erwachsene und allein du bist für deine Gefühle zuständig. Dein Kind ist dir und deinen Gefühlen gegenüber hilflos ausgeliefert. Wenn du wütend bist, bezieht es diese Wut automatisch auf sich. Darum ist es so wichtig, dass du ihm vermittelst, dass deine Wut nichts mit ihm zu tun hat.
Was hilft langfristig?
4. Beobachte dich, ohne dich zu verurteilen!
Auf längere Sicht ist es wichtig zu schauen, wo die Wut herkommt. Beobachte dich in deinem Alltag. Wann bist du in diesem Gefühl? Kündigt es sich langsam an oder überfällt es dich plötzlich wie aus heiterem Himmel? Suche nach Mustern! Beobachte nur und beurteile es nicht. Es ist schwer, sich nicht selbst zu verurteilen, wenn du z. B. Wut auf dein Kind empfindest. Du liebst es ja und willst nicht wütend sein.
5. Die Wut hat eine Botschaft für dich!
Höre auf sie. Welches Bedürfnis wird bei dir verletzt, dass du mit solcher Wut reagierst? Oder was triggert die Wut? Welche alte Erfahrung, z. B. die der Ohnmacht als Kind in einer bestimmten Situation, steckt dahinter? Gerade in Bezug auf unsere Kinder neigen wir dazu, die Wut nicht sehen zu wollen. Drückst du die Wut auf dein Kind aber weg, kommt sie umso stärker an anderer Stelle wieder zum Vorschein. Ich wollte mir z. B. an unserem Hochzeitstag nicht so richtig eingestehen, dass ich ein Bedürfnis danach hatte, allein Zeit mit meinem Mann zu verbringen und dass mein Bedürfnis mit dem meiner Tochter konkurriert. Wir beide wollten Aufmerksamkeit von meinem Mann. Gleichzeitig hatte ich aber die innere Überzeugung, dass mein Bedürfnis nicht so wichtig ist wie das Bedürfnis meiner Tochter. Ich wollte nicht für mein Bedürfnis einstehen. Ich war also in der Zwickmühle. Meine Wut hat dieses Dilemma, in dem ich mich befand, an die Oberfläche gebracht. Ich bin ihr im Nachhinein dankbar dafür.
6. Erkenne deine Wut und wandel sie dadurch um!
Durch das Erkennen deiner Zwickmühle kannst du auch etwas daran ändern. Durch das bewusste Fühlen der Wut und durch das Bewusstmachen des darunterliegenden Musters kann sich langfristig eine Änderung einstellen. Dann überfällt dich die Wut nicht mehr wie ein Räuber, sondern du siehst sie herannahen und kannst sie durch bewusstes Wahrnehmen nach und nach umwandeln.
Hast auch du schon Erfahrungen mit deiner Wut auf dein Kind gemacht? Was hat dir dabei geholfen? Was war besonders schwer? Schreibe dazu gerne deine Sichtweise in die Kommentare unten.
Mehr von Bahar Yilmaz kannst du in ihrem Buch "Du wurdest in den Sternen geschrieben", lesen. Das findest du unter: https://www.indensternen.com/
Das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)2007 gegründete Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) klärt über Babyschreien und Schütteltrauma auf. Das Video auf der Website erklärt die Gefahren des Schüttelns und gibt Tips für den Umgang mit Wut auf das schreiende Baby. https://www.fruehehilfen.de/grundlagen-und-fachthemen/fachthemen/babyschreien-und-schuetteltrauma/#:~:text=Babyschreien%20und%20Sch%C3%BCtteltrauma%20Das%20Nationale%20Zentrum%20Fr%C3%BChe%20Hilfen,informiert%20Eltern%20auf%20elternsein.info%20%C3%BCber%20Hintergr%C3%BCnde%20und%20Hilfsangebote.